23.11.2021
Rund ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Das wirkt sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aus – ob in der Bildung, der Arbeitswelt, in vielen Bereichen des Zusammenlebens oder auch im Gesundheitswesen. Interkulturalität ist daher ein zentrales Thema in der gesundheitlichen Versorgung und bereits heute in vielen Einrichtungen aktuell. Um die verschiedenen Fragestellungen zu reflektieren, bot der Zentralbereich Christliche Unternehmenskultur und Ethik der BBT-Gruppe einen Workshop mit Professor Ilhan Ilkilic von der Universität Istanbul an.
Im Alltag von
Kliniken und sozialen Einrichtungen zeigen sich interkulturelle Fragen etwa in
der Kommunikation und den Möglichkeiten, diese zu verbessern, der
Besuchskultur, der Ernährung bis hin zu rituellen Bräuchen. Auch der Umgang mit
Tod und Sterben ist ein Thema.
Genauso geht es
um medizinethische Aspekte, die kulturell unterschiedlich bewertet werden
können, etwa die Frage der Autonomie. So hat in anderen Kulturkreisen die
Familie bei persönlichen Entscheidungen wie zum Beispiel der Wahl der Therapien
oftmals ein anderes Mitspracherecht. „Doch“, so betonte Professor Ilkilic, Mitglied
der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer und bis 2020 im Deutschen
Ethikrat vertreten, „jeder Patient ist als Individuum wahrzunehmen und zu
behandeln und nicht lediglich als ein Mitglied seiner sozialreligiösen Gruppe.“
Denn auch die gut gemeinte Berücksichtigung kultureller Eigenheiten könne dazu verleiten,
Stereotypen zu folgen. Gleichzeitig erinnerte Ilkilic, der darüber hinaus der WHO-Expertengruppe
„Kultur und Gesundheit“ angehört: „Von einem interkulturellen
Arzt/Pflege-Patienten-Verhältnis kann jedoch erst die Rede sein, wenn der
behandelnde Arzt und der behandelte Patient sich auch als Angehörige
unterschiedlicher Kulturkreise verstehen.“
Interkulturelle
Sensibilität ist den Angehörigen der Gesundheitsberufe gewissermaßen ins
Stammbuch geschrieben. Sowohl der Ethik-Kodex der Pflegenden wie auch das
Genfer Ärztegelöbnis legen Wert darauf, dass Unterschiede der Kultur, der Rasse
oder der Religion das Tun der Pflegenden und der Mediziner*innen nicht
beeinträchtigen dürfen. „Auch in unseren Grundsätzen und Leitlinien ist das als
oberstes Gebot festgeschrieben. Was theoretisch klar und unbestritten ist,
bedarf doch immer wieder neu der Sensibilisierung und der Einübung“, betonte Dr.
Peter-Felix Ruelius, Leiter des Zentralbereichs Christliche Unternehmenskultur
und Ethik der BBT-Gruppe.
Im Workshop
ging es auch darum, inwiefern Rassismus im Gesundheitswesen eine Rolle spiele
und wie dem zu begegnen sei. Offener Rassismus sei selten, ausgrenzende Dynamiken
gebe es dennoch, dies zeigten aktuelle Meldungen und Studien, berichtete Ilkilic
und machte das an einem Beispiel deutlich: „Hautkrankheiten sehen bei Menschen
mit dunkler Hautfarbe anders aus. Sind Mediziner darauf vorbereitet?“ In einer
US-Umfrage aus dem Jahr 2011 gab fast die Hälfte der Dermatologen an, dass ihre
medizinische Ausbildung nicht ausreiche, um sie auf die Diagnose und Behandlung
von Erkrankungen bei schwarzer Haut vorzubereiten. In Deutschland kenne man
eher die Diagnose „Morbus Bosporus“, wenn Mediziner*innen die
Schmerzwahrnehmungen von türkischen Patient*innen nicht adäquat einschätzten. Vor
allem der Struktur geschuldet ist ein weiteres Thema: Die Sprachmittlung ist bei
Kassenpatient*innen nicht erstattungsfähig. Das könne dazu führen, dass
wichtige Informationen zwischen medizinischem Personal und Patienten nicht ausgetauscht
werden und die Behandlung dadurch negativ beeinflusst werde.
Die Experten
waren sich darin einig, dass es viele gute Initiativen in deutschen
Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Sozialeinrichtungen gibt und dennoch
ist nach ihren Worten noch „Luft nach oben“. Professor Ilkilic arbeitet mit
viel Engagement daran, hier Akzente zu setzen und richtet einen deutlichen
Appell an die Ausbildung von Medizinern und Pflegekräften: „Hier wird
grundgelegt, dass die Praxis im medizinischen Alltag tatsächlich eines Tages
kultursensibel sein kann. Kirchliche Einrichtungen können als religionssensible
Orte hier eine besondere Rolle einnehmen und diese Sensibilität zu einem
Merkmal ihres Profils machen.“
Der Workshop fand im
Rahmen des trägerübergreifenden Fortbildungsprogramms „Angewandte Ethik“ statt.
Dieses wird zusammen von der Caritas
Trägergesellschaft Saarbrücken (cts), der Hildegard-Stiftung, der Kplus Gruppe,
der Malteser Deutschland gGmbH, der Marienhaus Stiftung und der BBT-Gruppe
angeboten. Es richtet sich an Personen, Professionen und
Organisationen im ambulanten und stationären Bereich. Die ethische
Reflexion greift Fragen auf, die in medizinischen, pflegerischen
und betreuenden Kontexten auftauchen und oft auch die
Beziehungen zwischen den Organisationen und Professionen betreffen.