Die
überwiegende Mehrheit der Deutschen möchte zuhause sterben. Palliativ- und
Hospizstrukturen müssten dafür ausgebaut werden. Aber das wird nicht
ausreichen, sagt Professor Dr. Andreas Heller. Er lehrt Palliative Care und
Organisationsethik an der Universität Klagenfurt, Wien, Graz und plädiert für
eine "sorgende Gesellschaft". Was das bedeutet, erklärt er im Interview.
In Deutschland wird derzeit über den ärztlich assistierten Suizid diskutiert. Im gleichen Atemzug wird der weitere Ausbau von Palliativdiensten und Hospizen gefordert. Ist das die Lösung?
Das Thema wird nicht nur im Bundestag, sondern bis an die
Basis der Bevölkerung diskutiert. Menschen, die sich um ihre Zukunft oder die
ihrer Angehörigen machen, melden sich zu Wort. Und es ist eine kluge
Entscheidung des Bundestages zum 1. Oktober zu einer gesetzlichen
Verbindlichkeit in diesen Fragen zu kommen. Im Zuge dieser Debatte wird von den
beiden großen Verbänden, dem Deutschen Hospiz-und Palliativverband und der
Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, fast schon mantragleich der Ausbau
einer guten Hospiz- und Palliativversorgung gefordert. Das ist in der Tat eine
große Herausforderung. Aber man muss das viel differenzierter sehen.
Was meinen Sie mit "differenzierter"?
Wir brauchen eine sorgende Gesellschaft. Wir müssen den Wunsch, den über 90 Prozent der Deutschen seit 30, 40 Jahren äußern, dass sie zuhause sterben wollen, respektieren. Übrigens: Nur ein Prozent der Deutschen will im Krankenhaus sterben. Warum gelingt es uns nicht, ein menschenwürdiges, professionell gut versorgtes Sterben zuhause zu ermöglichen? Das muss die Perspektive sein.
Sie
plädieren also für das Engagement der Bürgergesellschaft, weil Institutionen das
allein nicht leisten können?
Ja, wir brauchen eine neue Solidarität, eine sorgende und
umsorgende Gesellschaft. Wir müssen mindestens so viel investieren, um das
Engagement der Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren, wie wir in den Ausbau
von Hospiz- und Palliativeinheiten investieren. Dieses Engagement muss übrigens
alle Bereiche unserer Gesellschaft umfassen, die unserer Sorge bedürfen: Kinder
- gerade am Lebensanfang -, Menschen in Krisensituationen, Flüchtlinge, Asylanten.
Das sind die großen sozialen Themen dieser Zeit, die wir nicht allein mit nach
Qualitätsmanagement gesteuerten Firmen, Institutionen und durch Professionelle
werden bewältigen können. Ja, wir brauchen eine neue Bürgerschaftlichkeit. Und
das birgt die große Chance einer neuen Art des Zusammenlebens. Dieser Gedanke
kommt leider in der aktuellen Diskussion zu kurz.
In
Deutschland lastet die Pflege auf den Angehörigen. Mehr als 2,5 Millionen
Menschen sind pflegebedürftig, sieben von zehn werden Statistiken zufolge zu
Hause versorgt. Sind Familienmitglieder mit dieser schweren Aufgabe und dann
der Begleitung des Sterbenden nicht auch schlichtweg überfordert?
Es braucht ein Netz von Menschen, die den Pflegenden unterstützen und ergänzen und Sicherheit in schwierigen Situationen haben. In Deutschland gibt es gut ausgebaute ambulante Pflegedienste. Wichtig ist auch die palliativmedizinische Fachkenntnis des Hausarztes. Was wir als brauchen, sind Netzwerke von Unterstützung und Sorge zwischen Professionellen und Nicht-Professionellen. Auch die Kirchengemeinden beider Konfessionen sind in dieser Aufgabe gefordert: Caritas und Diakonie auch so zu verstehen, dass die Solidarität mit den sterbenden Mitgliedern einer Gemeinde auch darin besteht, sie nicht alleine zu lassen - und sie nicht in Institutionen zu verschieben.
Dennoch
noch einmal zurück zu den Institutionen: In Deutschland gibt es rund 300
stationäre Palliativstationen und mehr als 1.500 ambulante Hospiz- und
Palliativdienste. Deckt das noch nicht den Bedarf?
Wir brauchen zuallererst in den Einrichtungen aber auch
in der Gesellschaft einen Kulturwandel und mehr Hospizkompetenz. Ich halte
nicht viel davon, weiter spezialisierte Einheiten aufzubauen. In den
vergangenen 20 Jahren haben wir gelernt, dass eine Palliativstation in einem
900-Bettenhaus noch nicht die Kultur des Sterbens verändert. Wir brauchen auf
allen Stationen in einem Krankenhaus in der Pflege, vor allem in der Medizin
und der Seelsorge, kompetente palliative Expertise, die es Menschen ermöglicht,
gut, würdig, kompetent betreut, palliativ versorgt, sterben können. Vor dieser
Herausforderung stehen die Krankenhäuser. Es ist natürlich einfacher, eine
Palliativstation aufzubauen, aber das ist eine Sterbeinsel in einem Haus, in
dem alles so weitergeht wie bisher. Die erfolgreichsten und innovativsten Entwicklungen
in Deutschland in den letzten 15 Jahren sind in den stationären Alten- und
Pflegeheimen zu beobachten. Pflegeheime sind heutzutage Sterbeheime, deshalb
muss die Behandlung und Betreuung palliativ-hospizlich ausgerichtet sein. Für
die Krankenhäuser ist das schwerer umzusetzen, weil sie nach wie vor unter der
Dominanz der medizinischen Leitberufe stehen, aber nichtsdestotrotz stellt sich
diese Frage für die Zukunft - erst recht in Anbetracht der demographischen
Entwicklung. Wir werden längere Lebenserwartungen und längere Sterbephasen
haben und wir brauchen eine gute Versorgung, wenn wir nicht zu einer
Gesellschaft werden wollen, die den Leuten nahelegt: "Es ist jetzt Zeit für
dich, deinen Suizidassistenten zu beantragen."
Wir müssen also alle mehr "Hospizkompetenz" entwickeln?
Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband berichtet, dass
sich 100.000 Menschen ehrenamtlich in der Sterbebegleitung engagieren. Die Zahl ist verschwindend gering
- schließlich müssen wir alle irgendwann sterben. Es müssten doch Millionen von
Menschen Kompetenz in der Sterbebegleitung haben: Wie "geht" Sterben?, Welche
Anzeichen gibt es?, Wie kann man den Sterbenden begleiten? Ähnlich eines Erste-
Hilfe-Programms bedarf es auch eines Letzte-Hilfe-Programms. In der
Öffentlichkeit wird Sterben oft so dargestellt, als wenn es immer unter gravierenden
Schmerzen abläuft. In den meisten Fällen schlafen die Menschen einfach ein.
Wenn diese Schreckensbilder ersetzt würden, dann wird vielleicht auch der Ruf
nach einerBeschleunigung des Sterbens durch Suizidassistenz ein bisschen leiser.
Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Andreas Heller hat den Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF-Fakultät der Universität Klagenfurt, Wien, Graz. Er leitet die Universitätslehrgänge in Palliative Care und Organisationsethik und das interdisziplinäre Doktoratsstudium Professor Dr. Andreas Heller ist einer der führenden Wissenschaftler für Palliative Care im deutschsprachigen Raum
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