Die entscheidenden Fragen stellen sich an den Grenzbereichen des Lebens: Bringt die
Therapie dem Schwerkranken noch Linderung? Darf eine alte Dame allein umherlaufen,
auch wenn sie immer wieder stürzt? Wie kann ein psychisch Kranker davor geschützt
werden, sich selbst zu schädigen, ohne seine Selbstbestimmung zu verletzen?
Fragen, auf die Mitarbeitende in den BBT-Einrichtungen Tag für Tag Antworten finden
müssen.
Ärzte müssen helfen, Leiden
lindern, Krankheiten heilen.
Das ist ihr Beruf und ihre Pflicht.
Doch wie weit darf und soll
eine Therapie gehen? Je mehr
Möglichkeiten die Medizin bietet,
desto schwieriger ist es, darüber
zu entscheiden - für Ärzte,
Patienten und Angehörige. Die unzähligen Behandlungsmethoden der modernen Medizin sind ein Segen. Mit ihrer Hilfe können Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte Schmerzen lindern, Krankheiten heilen, die körperliche und geistige Fitness von Menschen erhalten, ihr Leben verlängern. Doch natürlich hat all das Grenzen - und zwar nicht nur medizinische. Immer seltener müssen Ärzte sagen: "Wir können nichts mehr tun." Immer häufiger müssen sie fragen: "Sollen wir wirklich alles tun, was medizinisch möglich ist?"
Gaben sich Mediziner früher in der Regel selbst die Antwort, haben heute meist die Patienten das letzte Wort. Dabei hat der Weltärztebund die Selbstbestimmung der Patienten erst 2017 in seinen Berufskodex aufgenommen: das Genfer Gelöbnis - die moderne Version des Hippokratischen Eides, der die ethische Verpflichtung der Ärzte seit der Antike beschreibt.
Das Recht auf Selbstbestimmung macht es jedoch nicht unbedingt einfacher, sich zwischen zwei Werten zu entscheiden, denen man nicht gleichzeitig entsprechen kann: Will ich als betagter Mensch das Risiko einer Hüftoperation eingehen, um eventuell meine Lebensqualität noch einmal zu steigern? Will ich als Krebspatient eine Chemotherapie mit vielen Nebenwirkungen über mich ergehen lassen, um eine letzte Heilungschance zu wahren? Wie gut müssen nach einem Schlaganfall meine Aussichten auf ein selbstbestimmtes Leben sein, damit ich will, dass man mein Leben intensivmedizinisch erhält?
"Das Abwägen zwischen dem Nutzen einer Behandlung einerseits und dem Leid oder dem Risiko, das mit ihr verbunden ist, andererseits gehört zum Krankenhausalltag", sagt der Medizinethiker und Theologe Thomas Wigant, Regionalleiter der BBT-Gruppe Tauberfranken-Hohenlohe. Besonders schwierig, erklärt er, werde es, wenn Patienten nicht in der Lage sind, selbst zu entscheiden: "Dann müssen Ärzte und Angehörige nach dem mutmaßlichen Patientenwillen handeln."
Dr. Christian Willaschek kennt solche Situationen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist dem Leitenden Oberarzt der Kinder- und Jugendmedizin im Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim ein junger Mann, der infolge von Sauerstoffmangel bei der Geburt eine allerschwerste Mehrfachbehinderung erlitten hatte.
Die Hirnschäden verhinderten eine normale geistige Entwicklung und lösten schwere Spastiken aus, also Verkrampfungen von Arm-, Bein- und Rückenmuskulatur, die den Jungen körperlich stark einschränkten: Selbst im Erwachsenenalter wog er kaum mehr als 20 Kilogramm und durch die extreme Krümmung der Wirbelsäule waren Herz und Lunge so beengt, dass der Patient häufig wegen Atemwegsinfekten behandelt werden musste.
"Wir haben diesen Patienten vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter hier behandelt", erzählt Kinderarzt Willaschek. "Deshalb standen wir in engem Austausch mit den Eltern und wussten genau, wie liebe- und aufopferungsvoll sie sich um ihren Sohn kümmerten."
Ärzte und Pflegepersonal, berichtet Willaschek, seien nicht in der Lage gewesen, mit dem Patienten zu kommunizieren: "Seine Eltern dagegen waren sicher, dass er sich ihnen mitteilte, und sie beschrieben uns die Lebensqualität ihres Sohnes immer wieder als sehr gut." Ihr Wille sei daher gewesen, alles medizinisch Mögliche für das Leben ihres Kindes zu unternehmen - auch als die Akutzustände immer häufiger, die erforderlichen Maßnahmen immer intensiver wurden.
"Wenn sich ein Leben erkennbar zum Sterben hinentwickelt", sagt Medizinethiker Wigant, "geht es für Angehörige und Ärzte irgendwann um die Frage: Hätte der Patient gewollt, dass wir ihm die Last einer Therapie noch aufbürden?"
"Wir gingen stets davon aus, dass seine Eltern den Willen dieses Patienten besser kannten als wir", sagt Kinderarzt Willaschek. "Deshalb folgten wir ihrem Wunsch, teilten ihnen aber auch mit, dass wir zu einer anderen Einschätzung kamen."
Mitte 2017 dann brachten die Eltern ihren Sohn erneut wegen einer schweren Atemwegsinfektion ins Caritas-Krankenhaus, und er musste unter höchstem Aufwand reanimiert werden. "Da begannen die Eltern zu zweifeln, ob es richtig gewesen war, ihren Sohn mit so viel Macht zurück ins Leben zu zwingen", erzählt Willaschek.
Im Laufe eines weiteren intensiven Gesprächs stimmten die Eltern schließlich zu, ihren Sohn künftig nur noch mit Basismaßnahmen zu versorgen. Bei einer krisenhaften Verschlechterung kurz darauf, wurde auf Reanimationsmaßnahmen verzichtet, sodass er in ihrem Beisein verstarb. "Der Kontakt zu den Eltern besteht weiter", sagt Willaschek, "und obwohl sie natürlich um ihren Sohn trauern, habe ich den starken Eindruck, dass sie mit ihrer Entscheidung im Reinen sind."
Das langjährige Vertrauensverhältnis zwischen Krankenhausteam und Eltern hatte es ermöglicht, die Balance zwischen Therapieaufwand und Leid, zwischen Leben und Sterben zu finden. Wie aber gelingt das, wenn Ärzte und Angehörige von jetzt auf gleich entscheiden müssen, wie intensiv ein Unfallpatient behandelt werden soll?
Eine große Erleichterung kann dann eine schriftliche Patientenverfügung sein. Darin kann jeder Mensch beschreiben, welche Maßnahmen er in welcher Situation für sich wünscht und welche nicht. Je detaillierter die Willenserklärung verfasst ist, desto genauer kann und muss sie berücksichtigt werden.
Diese Erfahrung hat Elke Bönisch gemacht, als ihr Ehemann Armin schwer erkrankte. Mehrere unheilbare Tumoren drückten auf bestimmte Hirnareale und lösten starke Sprach-und Orientierungsstörungen aus. "In meiner Naivität glaubte ich, ich könnte meinen Mann zu Hause pflegen", erzählt Elke Bönisch. "Aber es war schnell klar, dass er im Krankenhaus viel besser aufgehoben war." Dennoch war das ein schwerer Schritt, denn obwohl Armin Bönisch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sprechen konnte, machte er deutlich, dass er zurück nach Hause wollte.
Die Krankheit war zu weit fortgeschritten. Nur hochdosiertes Kortison verhinderte, dass Tumoren und Gehirn lebensbedrohlich anschwollen. "Familie und Freunde waren sich sicher, dass Herr Bönisch das nicht gewollt hätte", sagt Dr. Elisabeth Trost, die Armin Bönisch auf der Palliativstation im Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim versorgte. "Und zum Glück hatte er eine detaillierte Patientenverfügung ausgestellt." Darin habe Bönisch festgehalten, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen wünsche, "wenn er keine Einsichten mehr gewinnen kann", erklärt Trost.
Um ganz sicherzugehen, wie diese Bedingung zu verstehen war, bat Trost in Absprache mit Elke Bönisch das Ethikkomitee des Caritas-Krankenhauses um eine Fallbesprechung: "Das Ethikkomitee ist ein Beratungsgremium aus Ärzten, Pflegern, Seelsorgern und anderen, die im Krankenhaus Patienten versorgen", erklärt Regionalleiter Thomas Wigant, der das Ethikkomitee leitet. "Eine der Hauptaufgaben ist es, Ärzte und Angehörige in solch schwierigen Entscheidungen zu beraten."
Im Fall von Armin Bönisch ergab die Diskussion in der ethischen Fallbesprechung, dass der in der Patientenverfügung beschriebene Fall eingetreten war: "Herr Bönisch konnte nicht mehr einsehen, warum er nicht nach Hause durfte", erklärt Palliativmedizinerin Trost, die daraufhin die Kortisontherapie beenden musste: "Einem klar formulierten Willen nicht zu entsprechen, wäre Körperverletzung."
Auch Elke Bönisch hat der Rat des Ethikkomitees sehr geholfen, sagt sie: "Es ist so unglaublich schwer, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. Ohne die Beratung und ohne die Patientenverfügung hätte ich mich gefühlt, als würde ich ihn umbringen." Die Gewissheit, dass sie im Sinne ihres Ehemannes gehandelt hat, hilft ihr heute, mit dem schweren Verlust zu leben.
Text: Jan D. Walter | Fotos, Video: André Loessel