Mit über 80 treten häufig verschiedene Krankheiten gleichzeitig auf und dann kommt plötzlich ein Sturz hinzu und alles gerät aus dem Gleichgewicht. In der Altersmedizin sind Vernetzung und Verzahnung besonders wichtig, weil der Patient möglichst ganzheitlich behandelt werden muss - dann kann es schnell wieder bergauf gehen.
"Wird das noch etwas mit Olympia?" Mit einem schalkhaften Lächeln blickt Wilhelm Zimmermann seine Physiotherapeutin an. "Wenn Sie bis dahin fleißig trainieren, sind sie 2020 in Tokio mit von der Partie", meint Gertrud Skoda. Und wie Zimmermann trainiert! Raus aus dem Rollstuhl und ran an den Rollator. Einmal hin, wieder zurück, hinsetzen und das Ganze von vorne. "Sie machen das wirklich toll", lobt die Therapeutin. "Aber jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus." Mobilität, das ist für den 92-Jährigen sehr wichtig. Seit vielen Jahren schon versorgt er seine demente Ehefrau. Inzwischen bekommt er Unterstützung von einer polnischen Pflegekraft. "Aber das Einkaufen übernehme immer noch ich", betont der zierliche Rentner. Gern hat er es deshalb nicht gesehen, als ihn sein Hausarzt wegen anhaltender Rückenschmerzen in die Geriatrie des Bonner Gemeinschaftskrankenhauses überwiesen hat. Nötig war es dennoch: Statt des vermuteten Hexenschusses brachten die Röntgenaufnahmen einen Oberschenkelhalsbruch ans Licht. Zimmermann wurde sofort operiert. Nun hat er eine künstliche Hüfte und übt fleißig das Laufen. Zwei Tage noch, dann kann er entlassen werden. Die Nachsorge übernimmt die geriatrische Tagesklinik der Abteilung.
"Die Krankheitsgeschichte von Herrn Zimmermann zeigt idealtypisch, wie wir hier arbeiten", erklärt der Chefarzt der Geriatrie, Frank Otten. Statt wie in anderen Disziplinen gezielt ein Organ in den Blick zu nehmen, betrachtet die Altersmedizin stets den ganzen Menschen. "Wir sind zwar ausgebildete Internisten", sagt Otten, "aber in der Praxis sind wir Generalisten." Konkret bedeutet das: Das akute Leiden des Patienten wird kuriert, ebenso wichtig aber sind Maßnahmen zum Erhalt der körperlichen und geistigen Beweglichkeit. Chefarzt Otten: "Wenn ich eine Woche mit Grippe im Bett liege, macht mir das nichts aus. Ein alter Mensch steht unter Umständen nicht mehr auf." Schuld sind die chronischen Vorerkrankungen, die viele Patienten mitbringen. Im Alltag haben sie gelernt, damit zu leben, die akute Erkrankung aber bringt das fragile Gleichgewicht ins Wanken. Das geriatrische Behandlungsteam spielt hier eine entscheidende Rolle, gegebenenfalls auch die Gerontopsychiatrie. Aber auch die medizinische Versorgung verlangt besonderes Fingerspitzengefühl. So muss etwa die Medikamentengabe in der Geriatrie aufs Genaueste überwacht werden, weil viele Patienten aufgrund ihrer Vorerkrankungen besonders anfällig für Neben- und Wechselwirkungen sind. Zwei Dinge sind deshalb in der Geriatrie besonders wichtig: Empathie für alte Menschen und keine Scheu vor fachübergreifender Zusammenarbeit. Im Fall von Wilhelm Zimmermann kam das Konzept der Alterstraumatologie zum Tragen. Geriatrische und orthopädische Behandlung werden hierbei eng verknüpft. Am Gemeinschaftskrankenhaus Bonn arbeitet ein Orthopäde auf der geriatrischen und ein Geriater auf der orthopädischen Station."Diese enge Form der Verzahnung ist etwas sehr Besonderes", sagt Otten nicht ohne Stolz.
Was der Chefarzt bedauert: Einerseits wird die Geriatrie immer wichtiger, je weiter der demografische Wandel voranschreitet. Andererseits ist ihr Image in der Bevölkerung unvermindert schlecht. Die kümmern sich nur um Gebrechliche und Demente, laute ein weit verbreitetes Vorurteil, weshalb viele Patienten auch ungern in die Geriatrie eingewiesen würden. Denn wer will schon als gebrechlich und dement gelten? Das oberste Ziel der Altersmedizin sei den meisten hingegen nicht bekannt: der Erhalt der Selbstständigkeit. Wilhelm Zimmermann hat es am eigenen Leib erfahren. Dass er schon zehn Tage nach seiner Hüftoperation wieder fest auf beiden Beinen steht, hat der pensionierte Vermessungstechniker nicht zuletzt dem Physiotherapieteam zu verdanken. Auch in der Ergotherapie war er etliche Male, hat etwa gelernt, mit Hilfe einer Greifzange seine Hose anzuziehen und Gegenstände aufzuheben, ohne sichtief bücken zu müssen. Als ihm darüberhinaus der Besuch eines Therapiehundes angekündigt wurde, hat er nicht lange gezögert. "Ich hatte selbst viele Jahre lang Hunde, da konnte ich nicht Nein sagen",erzählt der alte Herr und lächelt.
Geriatrie - von griechisch geron, alt - ist der Fachbegriff für die Altersmedizin. Ein 90-jähriger Organismus funktioniert anders als der eines jungen Erwachsenen. Oftmals treten gleich mehrere Erkrankungen und ein hoher Grad an Gebrechlichkeit zusammen auf. Das erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Im Alter können sich Krankheiten zudem anders darstellen, sind häufig schwerer zu diagnostizieren und Therapieerfolge zeigen sich mit zeitlicher Verzögerung. In der Regel besteht zusätzlich ein Bedarf an sozialer und psychologischer Unterstützung. All das macht die Behandlung im interdisziplinären Team notwendig - mit dem Ziel, den Körperzustand und die Lebensqualität des älteren Patienten zu verbessern und seine Autonomie zu fördern.
Also sitzt er nun in einer fröhlichen Patientenrunde, krault und bürstet einen zutraulichen Golden Retriever und gibt ihm Leckerli, wenn Frauchen Susanne Schattulat das erlaubt. "Tiergestützte Interventionen eignen sich bei vielen Erkrankungen", erklärt die erfahrene Therapeutin. Motorische Fähigkeiten lassensich mit dem Hund ebenso trainieren wie Selbstwertgefühl und Kommunikation. "Wenn der Hund in den Raumkommt, öffnen sich viele Menschenganz automatisch", sagt Schattulat. Ebenso positiv wirkt die Musiktherapie auf die Patienten - beides Angebote, die man nicht in jeder Klinik findet.
Sich öffnen, mit anderen kommunizieren - für Wilhelm Zimmermann ist das ohnehin kein Problem. Er freut sich schon auf den Tag der Entlassung, darauf, seiner schwerkranken Frau wieder die Hand drücken zu können - die einzige Kommunikation, die zwischen den beiden Eheleuten noch möglich ist. Um im Alltag noch mit Hand anlegen zu können, will er sogar den Rollator-Führerschein machen, ein Kurs der geriatrischen Abteilung. Gemeinsam mit einem Arzt und einem Physiotherapeuten übt eine Trainerin dabei Alltagssituationen mit dem Rollator - von der Bordsteinkante bis zum Kopfsteinpflaster. Und wer weiß, wenn der Führerschein erst einmal in der Tasche sei, dann könne er ja doch noch die Olympiateilnahme ins Auge fassen, schmunzelt Zimmermann.
Text: Andreas Laska | Fotos: Harald Oppitz